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10.Isardrama

in

• SHORTSTORIES
07.02.2019 17:34
von muglsabine2016 • 277 Beiträge | 1545 Punkte




Isardrama
by Sabine Siebert



Fünf Tage hatte es ununterbrochen geregnet und München drohte in den Fluten zu ertrinken. Doch als ich heute Morgen die Augen öffnete, blinzelte die Sonne durch die Wolken. Der Dauerregen war vorbei. In unserer Dreizimmerwohnung in Thalkirchen tobten Michael und Tobias mit Andreas, ihrem Vater. Ich bereitete in der Küche das Essen, als plötzlich Andreas zu mir kam.

„Tobi und Micha sind kaum zu bändigen. Lass uns heute Nachmittag raus gehen.“
„Ja gut, gehen wir in den Tierpark.“
„Nein, Janina. Ich möchte an die Isar.“
„Aber der Fluss hat Hochwasser, das ist zu gefährlich.“
„So schlimm ist die Isar nicht und außerdem kostet der Tierpark Eintritt. Ist soviel Geld in der Haushaltskasse?“
„Nein.“
„Dann gehts nach dem Mittagsschlaf zum Picknick an die Isar.“
Ich nickte.
Andreas gab mir einen Kuss, legte seine Hände auf meinen gewölbten Bauch und sagte: „Und du mein Kleiner willst doch auch ans Wasser!“
„Papa“, rief Michael aus dem Kinderzimmer und schon stapfte Andreas wieder los. Er war sehr lieb zu unseren Kindern und hatte viel Geduld mit ihnen.

Ich wäre lieber in den Tierpark gegangen, aber Andreas hatte Recht. Wir waren knapp bei Kasse. Seit der Geburt von Michael vor fünf Jahren, war Andreas Alleinverdiener. Und obwohl wir sparsam lebten, blieb am Monatsende kaum etwas übrig. Michael ging in den Kindergarten und das kostete eine ganze Stange Geld.
Und nun war ich schon wieder schwanger, erwartete in vier Monaten meinen dritten Sohn. Andreas wollte am liebsten eine halbe Fußballmannschaft. Aber mir hätten unsere zwei Kinder gereicht. Die Wohnung war jetzt schon zu klein.

Ich widmete mich wieder dem Essen und eine Viertelstunde später aßen wir. Nachdem wir den Kindern versprochen hatten, am Nachmittag an die Isar zu gehen, ließen sie sich schnell zum Mittagsschlaf überreden. Während Andreas den Abwasch übernahm, legte ich mich auf die Couch und erwachte erst, als Tobias mich sanft streichelte.
„Aufstehen Mami.“

Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass ich zwei Stunden geschlafen hatte. Als ich in den Flur kam, standen bereits der Picknickkorb und der Buggy bereit. Michael hatte seinen Rucksack mit Spielsachen gefüllt.
„Alles schon fertig“, sagte Andreas stolz.
„Dann kann’s losgehen.“
Es war nicht weit bis zur Isar. Nach zehn Minuten erreichten wir bereits die Isarauen. Die Wolken waren fort und die Sonne strahlte nun von einem typisch bayrischen, weiß-blauen Himmel. Zuerst suchten wir uns einen schönen Platz auf einer der höher gelegenen Wiesen. Während ich mit den Picknickvorbereitungen beschäftigt war, trieb es meine Jungen schon zum Fluss. In Gummistiefeln liefen Tobias und Michael, gefolgt von Andreas, der Bagger, Schaufel und Eimer trug, zum Wasser. Die Isar floss heute nicht wie gewöhnlich träge dahin, sondern führte Hochwasser. Die kleinen Kiesbänke, die sonst in der Sonne glitzerten, waren alle überschwemmt. Im Wasser trieben Äste und sogar Baumstämme. Meine Söhne liebten Wasser und konnten die Gefahr noch nicht erkennen. Ich bereitete unser Picknick vor.
Nach einer Viertelstunde hatte ich alle Leckereien ausgepackt. Mit unserem Schlachtruf: „Alle Mahlerjungen zum Essen fassen!“, gelang es mir, sie anzulocken.
Sie ließen sich Kakao und den selbstgebackenen Streuselkuchen schmecken.

„Noch mehr“, stammelte Tobi.
„Ich auch“, meldete sich Michael.
Kaum waren die letzten Streusel verputzt, trieben sie ihren Papa wieder an.
„Wasser gehen“, drängelte Tobi.

„Bitte sei vorsichtig“, bat ich Andreas.
„Oh Janina, du solltest dich mal hören. Vertraust du mir überhaupt nicht? Denkst du, ich würde unsere Kinder einer Gefahr aussetzen? Am besten hätten wir dich zu Hause gelassen.“
Ich kämpfte gegen die Tränen und wendete mich ab. Schweigend räumte ich das Geschirr zusammen. Die Kinder hörte ich vor Vergnügen quietschen. Ich nahm ein Buch zur Hand, doch bereits nach einer Seite fielen mir die Augen zu.

Ein Schrei weckte mich.
„Mami komm schnell“, kreischte Michael.
„Der Tobi.“
Ich war noch benommen und verstand kein Wort.
„Was ist los?“
„Der Tobi ist im Wasser.“
Sofort rannte ich los. Am Ufer sah ich eine Menschenmenge.
„Lassen Sie mich durch! Tobi, Andreas!“
Ich konnte sie nicht sehen. Eine junge Frau kam auf mich zu.
„Zwei Männer sind ihnen schon hinterher gesprungen.“
„Was ich verstehe kein Wort.“
„Der Kleine ist ins Wasser gefallen und Ihr Mann versucht ihn rauszuholen.“
„Wo sind sie denn?“
„Dort.“ Die Frau zeigte in die Mitte des Flusses.
Ich konnte nur Wellen erkennen. Das Wasser war kalt und die Strömung gefährlich. Es schnürte mir die Kehle zu.
„Da seht doch!“ rief jemand. „Sie haben ihn.“
Jetzt sah ich auch einige Menschen in den Wassermassen kämpfen.
Und tatsächlich hatte ein Mann ein Kind, meinen Sohn, im Arm. Ich schrie. Eine Frau mit grauen Haaren ging vorsichtig ins Wasser und nahm Tobias in den Arm.
„Ich bin Krankenschwester. Den Notarzt habe ich schon gerufen. Haben Sie eine Decke?“
Michael rannte los und holte unsere Picknickdecke. Ich wollte Tobias halten. Doch die Frau wehrte ab.
„Lassen Sie mich das machen.“
Aus der Ferne war ein Martinshorn zu hören. Die Frau beatmete Tobias und schlug auf seinen kleinen Körper. Er begann zu röcheln. Der Notarzt traf ein. Die Krankenschwester informierte den Arzt, während ich unfähig war, irgendetwas zu sagen oder zu tun.
„Wo ist Papa?“, fragte Michael.
In der Aufregung hatte ich ihn beinahe vergessen.
„Mein Mann, wo ist mein Mann?“, fragte ich die Umstehenden. Aber keiner antwortete. Die Retter meines Kindes waren wieder an Land. Und wer half jetzt Andreas?
„Fahren Sie mit“, sagte der Arzt mit leichtem Druck.
„Ihr Sohn braucht sie. Sie können beide mitfahren.“
„Aber was ist mit meinem Mann?“
„Die Wasserwacht kommt gleich und wird sich darum kümmern. Wir müssen fahren. Kommen Sie.“
Michael zog mich mit sich und so stieg ich schweren Herzens ein. Die Fahrt war kurz. Der Rettungswagen fuhr ins Klinikum „Rechts der Isar“ - nur fünf Minuten von der Unglücksstelle entfernt. Bevor ich einstieg, hörte ich Motorengeräusche auf dem Fluss.

Im Krankenhaus angekommen, brachten sie Tobias sofort in die Notaufnahme. Er war so bleich, als sei alles Blut aus seinem Körper gewichen. Eine Schwester brachte Michael und mich in ein Familienzimmer.
„Ich halte Sie auf dem Laufenden.“
Michael schmiegte sich an mich.
„Wird Tobi wieder gesund?“
Ich versuchte zu lächeln. „Ja, ganz bestimmt.“ Aber ich hatte schreckliche Angst.
„Ist Papa tot?“
„Nein.“ Ich sprang auf.
„Wie kannst du so was sagen?“
In diesem Augenblick kamen die Schwester und der Arzt zu uns.
„Wie geht es Tobias?“
„Er ist stark unterkühlt und sehr geschwächt. Einige Rippen sind geprellt und er hat viele blaue Flecken. Wir erwärmen langsam seinen Körper. Er hat großes Glück gehabt. Sie können jetzt zu ihm.“
Leise betraten wir das Zimmer. Tobias lächelte schwach, als er uns sah und flüsterte: „Mami.“
„Darf ich?“, fragte ich den Arzt.
Als dieser nickte, nahm ich Tobias in den Arm. Michael streichelte die Hand seines Bruders. Schweigend saßen wir eine Weile beieinander.
Der Arzt kam wieder: „Für heute ist es genug. Sie können morgen wiederkommen.“
Wir verabschiedeten uns und Tobias begann zu weinen. Auch ich schluchzte. Als wir das Krankenhaus verließen, kamen zwei Polizisten.
„Frau Mahler?“
Ich nickte.
„Ihr Mann wurde gefunden. Er hat schwerste Verletzungen erlitten, als er in eine Wasserwalze geriet. Es tut uns sehr leid, aber er ist noch am Unfallort gestorben.“
Mir wurde schwarz vor Augen und ich fiel. Irgendwann kam ich zu mir. Ich lag in einem Bett. Michael saß neben mir und streichelte meine Hand. Im Nachbarbett lag mein Jüngster und atmete gleichmäßig. Er schlief. Ich war so froh, meine Söhne bei mir zu haben. Ich drückte Michael ganz fest an mich. Ich wollte nur an die beiden denken, doch plötzlich schlich sich ein anderer Gedanke ein. Andreas. Was hatte der Polizist gesagt? Andreas war tot? Das durfte nicht sein. Wie sollten wir ohne ihn weiterleben? Wie sollte ich das ohne ihn schaffen? Ich hatte das Gefühl abzustürzen, spürte die Tränen in meinem Gesicht. Michael drückte mich ganz fest und flüsterte: „Wein doch nicht, Mami. Sonst muss ich auch weinen.“ Ich schluchzte. Ich wusste nicht, wie es jetzt weitergehen sollte. Doch ich spürte, dass ich für meine Kinder stark sein musste.
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zuletzt bearbeitet 01.04.2020 15:04 | nach oben springen


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