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Opa Eule braucht eine Brille ( von Sonja Pudmensky & Sabine Siebert)

in KINDERGESCHICHTEN
27.10.2020 17:46
von muglsabine2016 • 277 Beiträge | 1545 Punkte



Opa Eule braucht eine Brille -
eine Geschichte von Sonja Pudmensky und Sabine Siebert



In einem wunderschönen Märchenwald weit weg von hier lebt Opa Eule schon seit langer Zeit. Er wohnt in einer Höhle, die er sich selbst in einer alten Eiche gebaut hat. Er hat sich behaglich eingerichtet. Sein Bett ist mit vielen weichen Federn gefüllt. Da kann er wunderbar schlafen und träumen. Am liebsten aber sitzt er auf dem dicken Ast direkt vor der Höhle und schaut mit seinen großen runden Augen, was im Wald passiert. Er sieht den Käfer, der am Waldboden krabbelt und die Ameise, die einen Zweig trägt. Die anderen Tiere bewundern Opa Eule.
Am meisten verehrt ihn die Ameise Annika. Sie lebt mit ihrer großen Familie und all ihren Freunden am Fuße des alten Eichbaumes, auf dem auch Opa Eule wohnt. Annika hat immer etwas zu tun. Sie kann keine Minute stille stehen. Kaum hat sie das Zweiglein ihrem Mann für den Hausbau übergeben, flitzt sie schon weiter und sucht Nahrung für ihre Kinder. Einen kurzen Moment hält sie dennoch inne und schaut hinauf zu Opa Eule.
Wie wundervoll ruhig er vor seiner Höhle sitzt, denkt sie. Nur seine Augen bewegen sich hin und her.
Opa Eule schaut zum Nachbarbaum. Dort wohnt sein Sohn mit Frau und Kindern. Weil Opa Eule klug und weise ist, bringen alle Euleneltern ihre Kinder zu ihm. Doch heute unterrichtet er seine Enkel. Es dauert nicht lange, da erscheint am Höhleneingang das Eulenmädchen Panni. Mit seinem rechten Flügel winkt es dem Opa zu. Panni nimmt Anlauf, fliegt wild mit den Flügeln schlagend, und landet stolz neben Opa Eule. Schon taucht am Eingang noch ein Eulenkopf auf. Jetzt ist ein zweiter Kopf zu sehen. Die beiden Eulenkinder wollen gleichzeitig durchs Loch. Doch das Loch ist zu klein und jede Eule will die erste sein.
Noch sind die beiden Streithähne in der Höhle ihrer Eltern. Im Hintergrund ist die Stimme ihrer Mutter zu hören. „Ruhig Blut, ihr beiden. Verschenkt nicht jetzt schon eure Kräfte. Ihr werdet sie brauchen, wenn ihr zu Opa Eule hinüberfliegen wollt. Einigt euch, wer der Erste sein darf, dann atmet tief durch und startet nacheinander. Haltet genügend Abstand! Was Panni geschafft hat, wird euch auf diese Weise auch gelingen", sagt sie streng.
Doch die beiden Streithähne denken gar nicht daran. Sie schubsen und drängeln, bis Karli sich als Erster durch das Loch zwängt. Doch kaum ist er draußen, fällt ihm Fritzi auf den Kopf und beide purzeln vom Ast. Doch bevor sie unsanft auf dem Waldboden landen, erwischt sie Opa Eule und zieht sie auf den Ast zurück.
„Was habt ihr euch dabei gedacht? Ihr hättet euch wehtun können“, schimpft Opa Eule.
Die Brüder schauen den Opa mit ihren großen runden Augen an und murmeln gleichzeitig: „Entschuldigung.“
Mama Eule sieht alles mit an. Sie erschreckt sich so sehr, dass ihr die Luft wegbleibt und sie beinahe hinterher fällt.
Zum Glück ist Opa Eule rechtzeitig los geflogen und hat die beiden auffangen können. Fritzi und Karli sind ihre Sorgenkinder. Manchmal weiß sie gar nicht, wo sie zuerst hinschauen soll. Einer von beiden heckt immer irgendwelchen Unsinn aus.
Papa Eule nimmt sie aber in Schutz und lacht ihre Sorgen einfach weg.
Nach dieser Aufregung müssen alle erstmal verschnaufen. Opa Eule und die drei jungen Eulen sitzen eine Weile nebeneinander auf einem dicken knorrigen Ast.
Dann rollt Opa Eule mit den Augen, blickt von einem zum anderen und fragt: „Seid ihr für einen Ausflug bereit?“ Die drei nicken. „Mal sehen, wie gut ihr schon fliegen könnt.“ Mit dem Flügel zeigt er nach Süden zu einem hohen Baum. „Seht dort die Kiefer. Da fliegen wir hin. Bewegt die Flügel gleichmäßig. Ich zeige es euch.“ Opa Eule streckt sich und fliegt ganz langsam vom Ast.
Ameise Annika hält gerade zu diesem Zeitpunkt Ausschau nach einer langen Kiefernadel. Sie sucht unter dem großen Baum, zu dem Opa Eule unterwegs ist. Als sein Schatten über ihr erscheint, sieht sie erschreckt nach oben.
Zum Glück ist es Opa Eule. Von ihm geht keine Gefahr aus. Wie ruhig und kraftvoll er seine großen Flügel schwingt, denkt Annika. Wenn er gleich auf dem Ast landen wird, fällt vielleicht eine der besonders langen Nadeln nach unten. Mein Mann braucht eine solche Nadel, um eine Brücke zu bauen, die direkt in unser Haus führt.
Und tatsächlich segelt eine schöne Kiefernnadel nach unten und landet direkt vor ihren Füßen. Annika beeilt sich, hebt sie auf ihren Rücken und trägt sie heim.
Sie hat erst wenige Schritte gemacht, da regnet es plötzlich Nadeln. Rechts und links, vor und hinter ihr, fallen lange Nadeln herab. Annika blickt nach oben und sieht gerade noch rechtzeitig eine spitze Nadel abwärts segeln. Schnell springt sie zur Seite, bevor die Nadel sie trifft. Ihre Nadel rutscht ihr vom Rücken. Wieder blickt sie nach oben und sieht eine junge Eule, die neben Opa Eule gelandet ist. Sie hüpft auf dem Ast auf und ab und dadurch fallen die Nadeln vom Baum. Annika schüttelt den Kopf, nimmt ihre Nadel wieder auf den Rücken und läuft geschwind nach Hause.
Den Nadelregen hat Panni ausgelöst, weil sie kurz nach der Landung neben ihrem Opa versucht hat, einen Freudentanz aufzuführen. Der Ast ist dafür eigentlich zu schmal, deshalb hat sie sich an ihm festhalten müssen, um nicht herunterzufallen. Mit ihren scharfen Krallen hat sie die Nadeln abgerissen und dabei - ohne es zu wollen und auch ohne es zu bemerken - Ameise Annika in Gefahr gebracht. Gut, dass Annika so geistesgegenwärtig war, wer weiß, was sonst hätte alles passieren können.
„Du bist gut geflogen, Panni“, lobt Opa Eule. „Wo bleiben deine Brüder? Du bleibst hier und ich schaue nach ihnen.“ Und schon ist Opa Eule in der Luft. Eine Minute später landet er bei Karli und Fritzi. „Wo bleibt ihr denn? Panni und ich warten auf euch.“
„Panni ist einfach ohne uns los geflogen“, schimpft Fritzi. „Sie will immer die Erste sein“, beschwert sich Karli. „Aber Jungs, was soll denn das Gezeter? Ihr braucht doch nur zu fliegen“, versucht Opa Eule sie zu versöhnen. „Und jetzt fliegen wir gemeinsam. Auf mein Kommando. Eins, zwei, drei und Abflug."
Opa Eule hat Recht, denn für ihn ist fliegen einfach. Er hat bestimmt tausendmal geübt, so geradlinig vom Ast abzuheben, mit wenigen, aber kräftigen Flügelschlägen durch die Lüfte zu segeln und zielsicher zu landen.
Fritzi und Karli fangen aber erst an mit der Flugschule. Sie wollen ihre Angst nicht zeigen und beneiden Panni um ihren Mut. Gern würden sie es ihr gleichtun. Während Opa Eule auf die Kiefer zuschwebt, schauen sie ihm zu. „Es sieht eigentlich ganz leicht aus", sagt Fritzi leise zu Karli.
„Lass es uns gemeinsam versuchen“, schlägt Karli vor. „Bei drei?“, fragt Fritzi.
Karli nickt und zählt: „Eins, zwei, drei.“ Beide flattern mit den Flügeln und verlassen den Ast. Karli schlägt kräftig mit den Flügeln und kommt gut vorwärts. Fritzi’s Flügel bewegen sich ganz schnell. Er fliegt auch, sinkt dabei aber immer tiefer. Opa Eule beobachtet die beiden genau. Er ruft Karli zu: „Weiter so, du schaffst das.“ Als Fritzi dem Waldboden immer näher kommt, steckt ihm Opa Eule schnell einen Flügel unter den Bauch und drückt ihn sanft nach oben. Als Fritzi die richtige Höhe erreicht hat, zieht Opa den Flügel zurück. Fritzi schafft es nun alleine. Opa Eule fliegt mit Fritzi zur Kiefer, auf der Panni und Karli schon warten. „Das habt ihr gut gemacht, Kinder!“, lobt der Opa.
Sie freuen sich über das Lob und stupsen sich gegenseitig mit ihren Schnäbeln an. Was wohl ihre nächste Aufgabe sein wird? Sie schauen erwartungsvoll zu ihrem Opa. Doch der schweigt.
„Opa, wie geht es jetzt weiter", fragt Panni ungeduldig. Fritzi und Karli rutschen schon unruhig auf dem Ast hin und her. Doch Opa lässt sich Zeit mit der Antwort. Endlich reagiert er: „Jetzt sind die Augen dran. Seht hinunter auf den Waldboden und beobachtet die Tiere, die dort leben. Wie heißen sie und was tun sie?“
„Da unten ist doch nichts zu sehen“, beschwert sich Karli. „Der Boden ist viel zu weit weg.“ - „Ihr müsst ganz genau schauen“, sagt Opa Eule. „Der Boden ist so dunkel“, findet Panni. - „Kommt wir fliegen auf den Boden“, schlägt Opa vor. „Auf drei und jetzt zählt ihr.“
Die drei Geschwister zählen: „Eins, zwei, drei“ und lassen sich fallen. Sie plumpsen auf den Boden, während Opa Eule sanft hinab gleitet. Blätter und Nadeln wirbeln auf und vier Ameisen fallen um. „Nicht so wild. Immer schön langsam“, mahnt der Opa. Eine Ameise läuft über Karlis Kralle. „Weg da!“, beschwert er sich und stupst mit dem Schnabel die Ameise.
„Aua, was soll das? Du tust mir weh. Im übrigen ist das unsere Straße. Die haben wir angelegt, um Material für unseren Hausbau zu transportieren. Also, flieg hoch. Dir gehören die Lüfte und uns der Waldboden", ruft Ameise Annika Karli zu.
„Entschuldige bitte, liebe Ameise, Karli ist das erste Mal hier unten und weiß sich noch nicht zu benehmen", sagt Opa Eule beschwichtigend.
„Oh, ich habe dich gar nicht gleich erkannt, Opa Eule. Wenn du oben vor deiner Baumhöhle sitzt, siehst du ganz anders aus. Ich freue mich, dass du uns besuchen willst. Gern würde ich dich in mein Haus einladen, aber es ist noch nicht ganz fertig. Außerdem ist es vielleicht etwas zu klein für dich", erklärt Annika.
„Vielen Dank für deine nette Einladung, Annika. Aber du hast Recht, eine Eule passt wohl eher nicht in ein Ameisenhaus. Aber gerne schaue ich es mir an, wenn es fertig ist. Ich möchte dir meine Enkel vorstellen. Das sind Panni, Fritzi und Karli hast du schon kennengelernt. Ich will ihnen zeigen, wie der Wald funktioniert. Zuerst haben sie sich im Fliegen geübt. Und jetzt ist Beobachten angesagt.“
„Du zeigst ihnen alles? Sogar uns Kleine am Boden?“ wundert sich Annika.
„Alles im Wald ist wichtig, die Bäume und Pflanzen und alle Tiere, egal ob groß oder klein. Alles und jeder wird gebraucht.“
Die drei Eulenkinder verstehen nichts von dem, was der Opa mit der Ameise bespricht. „Können wir noch mal fliegen?“, bettelt Panni.
„Willst du den Baum hochklettern, Panni?", fragt Opa lächelnd. „Natürlich fliegen wir, für' s Klettern sind wir nicht gemacht. Aber für heute ist es genug. Ihr habt viel gesehen. Heute Abend vor dem Einschlafen denkt ihr nochmal über alles nach. Morgen Früh werdet ihr mir ein paar Fragen beantworten. Doch jetzt geht es nach Hause. Eure Eltern erwarten euch schon".
Karli und Fritzi merken plötzlich, dass sie Hunger haben. Beide fliegen nach oben. Es sieht noch etwas ungelenk aus, aber sie landen sicher auf dem Ast vor ihrer Höhle. Panni kommt als Letzte an. Sie ist unzufrieden. Gern wäre sie noch etwas umhergeflogen.
Mama Eule erwartet sie schon: „Da seid ihr ja wieder. War es schön?“
„Wir durften nur ganz wenig fliegen“, jammert Panni. „Für den Anfang reicht es aus“, tröstet die Mama sie. „Morgen könnt ihr wieder üben. Und wie hat es euch gefallen, Jungs?“ „Fliegen ist gar nicht so einfach“, stöhnt Karli. "Man muss immerzu die Flügel bewegen."
„Wir waren sogar auf dem Boden und haben Ameisen gesehen. Die sind winzig“, meint Fritzi. „Dann habt ihr jetzt bestimmt Hunger. Kommt schnell rein, das Essen habe ich schon fertig.
Opa Eule fliegt zu seinem Baum, setzt sich auf den knorrigen Ast vor seiner Höhle und blickt auf die Ereignisse des Tages zurück. Die Eulenkinder brauchen eine strengere Hand. Er wird mit seinem Sohn reden müssen. Es darf nicht sein, dass er lacht, wenn seine Frau streng zu den Kindern sein will.
Panni, Karli und Fritzi haben sich Mühe gegeben. Anerkennende Blicke hat er ihnen geschenkt. Mit lobenden Worten hat er sich lieber noch zurückgehalten.
Vor dem Schlafengehen besucht er seine Freundin, die Krähe Karola Krach. Sie sind schon lange befreundet. Einst hatten sie sich kennengelernt, als die Eisenbahn neue Drähte in der Luft gespannt hatte. Einige Vögel hatten nämlich die Drähte übersehen und sich verletzt. Da kamen viele Vögel, um die neuen Strippen zu begutachten. Und da war Karola mit ihren Schützlingen dort. Sie unterrichtet die jungen Krähen im Fliegen und hat ihnen die Gefahr gezeigt. Mit ihr will er heute Abend über seine Enkel und ihren Flugunterricht reden. Vielleicht hat sie ein paar Tipps für ihn.
Auf dem Weg zu seiner Freundin will er noch kurz nach seinen Enkeln schauen. Sein Sohn empfängt ihn schon am Eingang der Höhle und bittet ihn, ganz leise zu sein. Karli und Fritzi sind gleich eingeschlafen, aber Panni ist es schwer gefallen, zur Ruhe zu kommen. Auch jetzt bewegt sie ihre Flügel noch ein wenig auf und ab. Wahrscheinlich träumt sie vom Fliegen.
„Ich danke dir sehr, Vater, dass du dich so gut um unsere Kinder kümmerst", sagt der Sohn beim Abschied leise zu Opa Eule.
Der Mond steigt gerade über dem Wald auf. Voll und rund steht er am Nachthimmel und weist den Weg. Natürlich würde Opa Eule sogar in stockfinsterer Nacht den Weg zu seiner Freundin finden, denn mit seinen Augen kann er jeden Käfer erkennen. Opa Eule fliegt hoch hinauf und gleitet sanft über Eichen und Tannen. Er liebt diese Zeit, wenn der Tag schwindet und der Nacht Platz macht. Er begegnet einigen Fledermäusen, die der Hunger aus ihrer Höhle getrieben hat. Ein alter Fuchs kommt aus seinem Bau und schleicht auf der Suche nach Mäusen um einen Strauch herum. Da vorne sieht er schon das mächtige Nest von Karola Krach.
Sie erwartet ihn bereits.
„Guten Abend, Opa Eule, komm herein und setz dich zu mir", begrüßt ihn Karola.
„Ach, ich freue mich dich zu sehen und habe dir viel zu erzählen", sagt er und setzt sich. „Ich hatte heute wieder Flugschüler. Als ich nach dem Unterricht allein vor meiner Höhle saß, war ich voller Fragen. Ich bin nicht sicher, ob ich alles richtig gemacht habe. Mir kam die Idee, dich nach deinem Geheimrezept zu fragen, Karola. Unterwegs wurde mir aber klar, dass es ein solches Rezept gar nicht geben kann. Jedes Eulenkind bringt andere Eigenschaften mit. Ich muss es beobachten und immer wieder neue Ideen haben.“
„So ist es“, bestätigt Karola. „Sind es brave Schüler?“ - „Es sind meine drei Enkel. Aber sie sind sehr verschieden“, erzählt Opa Eule. „Panni ist ein Wirbelwind und will immer alles sofort machen und mag nicht aufhören. Fritzchen tut sich noch sehr schwer mit dem Fliegen. Und Karli ist immer alles so anstrengend.“ - „Du schaffst das schon“, macht Karola ihm Mut. „Aber ich habe da noch eine Idee. Probier doch mal.“ Den Rest flüstert sie. Opa Eule ist begeistert. „Das probiere ich gleich morgen aus. Jetzt muss ich dann aber heim.“ Die beiden verabschieden sich. „Und erzähl mir, ob es geklappt hat“, bittet Karola. Opa Eule nickt und erhebt sich in den Nachthimmel. Karola blickt ihm noch lange nach.
Er fliegt - wie jede Nacht - sehr weit, der Märchenwald ist groß. Obwohl Opa Eule schon sein ganzes Leben hier verbracht hat und er jede Nacht viele Stunden unterwegs ist, bevor er sich im Morgengrauen in sein Nest kuschelt, ist er noch nie an das Ende des Waldes gekommen. Deshalb ist er sich sicher, die ganze Welt zu kennen. Den Märchenwald und seine Bewohner hoch oben in den Ästen und weit unten am Boden, den weiten Himmel über den Bäumen, den Mond, die Sterne und die Sonne - mehr gibt es nicht.
Opa Eule braucht nicht viel Schlaf. Als die Sonne aufgeht, erhebt auch er sich. Er gönnt sich ein kleines Frühstück und fliegt dann zu den Enkeln. Panni erwartet ihn bereits vor der Höhle. Kaum sieht sie den Opa, ruft sie nach Franzi und Karli: „Schnell kommt heraus, Opa ist da!“ Sogleich erscheint Karli und dahinter Fritzi.
„Was machen wir heute?“, will Panni wissen. „Heute besuchen wir eine Freundin. Mal sehen, wie lange ihr ohne Pause fliegen könnt.“ Und schon erhebt sich Opa Eule. Er fliegt bis zu den Baumwipfeln. Panni, Karli und Fritzi machen es ihm nach. Panni erreicht als Erste die Krone und schwärmt: „Ich kann ganz weit sehen.“
Kurz darauf landet Karli neben Opa Eule. Auch Fritzi braucht heute keine Hilfe. Er hat einige Äste tiefer eine kurze Pause eingelegt und ist dann nochmal gestartet. Etwas außer Atem landet er neben seinem Bruder. Opa Eule lobt die Drei, fügt dann aber hinzu, dass noch zwei Etappen vor ihnen liegen.
„Sammelt all eure Kräfte, in fünf Minuten geht es weiter. Macht Pause, wenn ihr merkt, dass die Kräfte nachlassen. Fritzi hat das schon richtig gut gemacht", sagt Opa Eule.
Panni hüpft auf dem Ast auf und ab und schon regnet es Nadeln. Karli schaut erst zu seiner Schwester und dann angestrengt auf den Boden. „Schaut mal, da unten sind wieder die Ameisen. Sie schnappen sich die Nadeln.“ - „Ist das wieder Annika?“, fragt Panni. Opa Eule blickt auf den Boden. „Aber Karli, da sind doch keine Ameisen!“ - „Doch Opa“, beharrt Karli weiter. „Ich sehe sie auch, Opa“, ruft Panni. „Es sind drei Stück.“ Opa Eule schaut ganz angestrengt, doch er sieht sie nicht. Er fliegt tiefer und jetzt sieht er sie auch. Verwundert schüttelt er den Kopf. „Na so was“, denkt er. „Wo hatte ich bloß meine Augen.“ Schnell fliegt er zu den Enkeln: „Nein, es war nicht Annika. Lasst uns weiter fliegen. Die Pause ist beendet.“
Am Abend sitzt Opa Eule auf dem knorrigen Ast vor seiner Baumhöhle. Die Enkel liegen längst im Bett und träumen vom Fliegen. In der Dunkelheit funktionieren seine Augen sehr gut. Über eine Stunde prüft er sie schon. Am Boden sieht er keine Ameisen mehr. Sie sind in ihrem Bau verschwunden und schlafen. Aber Mäuse huschen über den Waldboden. Er kann sogar erkennen, wie ihre Barthaare zittern.
Am Tage sehen Eulen sowieso nicht so gut wie in der Nacht, denkt er und ist sehr froh über den Ausgang des Selbsttests.
Opa Eule wird von wildem Geschrei vor seiner Höhle geweckt. Er reibt sich zuerst mit dem rechten Flügel über das rechte Auge und dann mit dem linken Flügel über das linke Auge. Er blinzelt dreimal und begibt sich zum Höhleneingang. „Was ist denn hier los? Kann man nicht mal in Ruhe schlafen?“ Das Gezeter wird immer lauter. Er setzt sich auf den knorrigen Ast und schaut, woher der Krach kommt. Vier Äste über ihm streiten sich zwei Elstern. „Was ist los mit euch?“, ruft Opa Eule. Doch die beiden reagieren nicht. Also fliegt Opa Eule nach oben und landet genau zwischen ihnen. Vor Schreck vergessen sie das Streiten und blicken ihn mit offenen Schnäbeln an.
„Entschuldige, Opa Eule, wir haben nicht daran gedacht, dass du noch schläfst", sagt eine Elster schuldbewusst. „Jetzt habe ich ganz und gar vergessen, worüber wir uns gestritten haben", wundert sich die andere.
„Ich könnte es euch verraten. Ihr habt ja laut genug geschrien", meint Opa Eule, „das wäre aber ein großer Fehler. Mit Sicherheit ginge dann das Gezeter von vorn los.“
Wie alle Vögel des Märchenwaldes haben auch die Elstern Respekt vor ihm. Sie bitten ihn nochmal um Verzeihung und fliegen weiter.
Opa Eule hüpft in seine Höhle und versucht wieder einzuschlafen. Doch es will ihm nicht recht gelingen. Und weil er durch ein Astloch bereits die Sonne aufgehen sieht, entschließt er sich vor dem Frühstück nach dem Rechten zu sehen. Er erinnert sich, dass ihn Annika eingeladen hat und will nachsehen, wie es mit dem Hausbau vorangeht. Doch zuerst fliegt er zum Wipfel seines Baumes, der Sonne entgegen. Das macht er sehr gerne, weil er von dort den gesamten Wald überblicken kann. Die Sonnenstrahlen blenden ihn und er muss immer wieder blinzeln. Zwischendurch schaut er hinunter auf den Waldboden und kann kaum etwas erkennen.
Er fliegt zurück zum knorrigen Ast vor seiner Höhle, schließt die Augen und wartet eine Weile. Dann öffnet er sie wieder und richtet den Blick auf den Waldboden. Am Fuße seiner Eiche wohnt Annika. Er hat sie oft von hier aus beobachtet und ihr unermüdliches Tun bewundert. Heute kann er zwar die langen Nadeln sehen, die sich hin und her bewegen, aber die Träger entdeckt er nicht. Eigentlich ist das lustig, selbst laufende Nadeln zu erleben, aber Opa Eule kann nicht darüber lachen. Er macht sich Sorgen. In der Nacht klappt es noch gut mit dem Sehen, aber wenn das am Tage so weiter geht, wird er bald Hilfe in Anspruch nehmen müssen.
Opa Eule überlegt, ob er schon jemals von einer Eule gehört hat, die nicht richtig sehen konnte. Er denkt an Mutter und Vater. Nein, die hatten keine Probleme. Und selbst sein Opa hat bis ins hohe Alter jede Ameise erkennen können. „Bestimmt, wird es bald besser“, denkt er sich. Er wird den anderen nichts davon erzählen. Er fliegt zur Höhle seiner Enkel. Kaum hat er die Höhle betreten, lädt ihn sein Sohn ein: „Wir frühstücken gerade, komm setz dich zu uns.“ Das Angebot nimmt Opa Eule gerne an. Die Enkel rücken zusammen und machen für ihn Platz. „Was macht ihr heute?“, fragt sein Sohn.
„Seid nicht traurig, aber heute fällt der Unterricht aus. Ich muss mich um meine Augen kümmern, die plötzlich nicht mehr mit dem Tageslicht zurechtkommen", antwortet Opa Eule. „Ja, das ist wichtiger", sagt sein Sohn erschrocken. „So werde ich heute mit den Kindern üben.“
Nach dem Frühstück startet Opa Eule in Richtung Süden. Dort lebt Dr. Rabe. Er ist sehr weise und kennt sich auch in der Medizin gut aus. Er hat schon vielen Tieren des Märchenwaldes geholfen. Ameise Annika ist vor ein paar Monaten von einem Balken ihres Hauses gestürzt und hat sich den Fuß gebrochen. Dr. Rabe hat Annikas Schwestern angeleitet und ihnen gesagt, wie sie den Verband anlegen sollen.
Auf dem Baum, auf dem Dr. Rabe wohnt, gibt es zwei große Nester. In einem untersucht der Doktor seine Patienten, in dem anderen wohnt er. Dr. Rabe hat unterschiedliche Patienten. Besonders oft kommen Hasen und Mäuse zu ihm. Sie verletzen sich häufig die Pfoten. Auch gebrochene Flügel hat der Doktor schon behandelt. Die Tiere, die nicht fliegen oder klettern können, behandelt Dr. Rabe am Fuße des Baumes. Als Opa Eule ankommt, warten bereits eine Mäusemutter mit ihren zwei Kindern und ein Kaninchen auf den Doktor. Opa Eule stellt sich hinten an. „Was fehlt ihnen?“, fragt er die Mäusemutter und zeigt auf die Kinder? „Die beiden haben Bauchweh.“
Nachdem sich das Kaninchen von Dr. Rabe verabschiedet hat, fliegt Opa Eule hoch in das Behandlungsnest. Dr. Rabe folgt ihm. In der Baumkrone hat er mehr Licht und kann die Augen besser untersuchen.
„Hmm, du hast gesagt, dass du vor allem bei Tage Beschwerden hast. Nachts siehst du also noch gut?", fragt er Opa Eule. Dieser bestätigt die Aussage.
„Wenn das so ist, brauchst du am Tag eine Brille. Flieg bitte gleich zur Brillenschlange. Sie kann dir helfen. Du kennst sie sicher. Sie wohnt 800 Meter östlich von meinem Nest", schlägt Dr. Rabe ihm vor.
„Brillenschlange?“, Opa Eule zuckt mit den Flügeln. „Nein. Von einer Brillenschlange habe ich noch nicht gehört. Und die wohnt hier bei uns im Märchenwald?“
„Aber sicher doch. Sie lebt am Fuß der tausendjährigen Buche. Die kennst du doch.“ „Natürlich“, bestätigt Opa Eule. „Doch eine Schlange habe ich dort noch nie gesehen.“ - „Du wirst sie dort sicher finden. Bestelle ihr schöne Grüße von mir und flieg gleich hin“, bittet Dr. Rabe. Opa Eule verabschiedet sich und fliegt in die beschriebene Richtung.
Opa Eule ist schon oft an der tausendjährigen Buche gewesen. In den hohen Wipfeln dieses Baumes sitzt es sich gut und man kann weit sehen. Aber am Boden, in der Nähe der mächtigen Wurzeln war er noch nicht. Keiner seiner Verwandten hat bisher die Dienste der Brillenschlange in Anspruch nehmen müssen. Vermutlich hat er deshalb noch nichts von ihr gehört.
Opa Eule steuert gleich den Waldboden unter der Buche an. Auf den Wipfeln zu sein, würde ihm heute wenig Freude bereiten. Sein Blick in die Weite ist getrübt. Darüber ist er sehr traurig und er hofft, dass die Brillenschlange ihm helfen wird.
Und tatsächlich, als er auf dem Boden landet, sieht er den kreisrunden Eingang. Sogar ein Schild hängt rechts daneben. Allerdings kann Opa Eule es nicht lesen. Unter dem Schild gibt es auch einen Klingelknopf. Er drückt mit der Flügelspitze auf den Knopf und hört ein feines Glockenläuten. Er wartet eine Weile, aber nichts passiert. Er drückt noch einmal auf den Knopf. Doch außer dem Glöckchen ist nichts zu hören. Als Opa Eule noch wartet, kommt eine Waldmaus daher. „Opa Eule, du hier?“, fragt die Maus. „Wir haben uns doch vorhin bei Dr. Rabe getroffen.“ - „Ja, natürlich. Ich hätte dich beinahe nicht erkannt“, antwortet er
„Geht es deinen Kindern etwas besser - jetzt, nachdem sie die bittere Medizin geschluckt haben?", erkundigt er sich bei der Mäusemutter. „Ach, sie schlafen endlich", sagt sie, „und du willst zur Brillenschlange? Sie wird gleich wieder hier sein und ihre Praxis öffnen."
„Hallo, ihr Beiden, wollt ihr zu mir?", ruft es aus dem Gebüsch. „Nur Opa Eule, ich habe ihm ein wenig Gesellschaft geleistet, liebe Brillenschlange", antwortet die Maus. „Moment bitte, ich hole schnell meine optischen Geräte heraus. Wir treffen uns gleich da drüben auf der Waldlichtung", sagt die Schlange freundlich zu Opa Eule.
Er fliegt zur Lichtung und landet auf einem Baumstumpf. Es dauert nicht lange, da hört er es rascheln und die Brillenschlange kriecht hervor. Sie reckt sich, bis sie Opa Eule in die Augen sehen kann. Mit ihrer schwarzgelben Brille sieht sie sehr klug aus. „Wann hast du festgestellt, dass du nicht mehr richtig siehst?“ fragt sie Opa Eule. „Erst kürzlich, als ich meinen Enkeln Flugunterricht gegeben habe.“ - „Also am Tage“, murmelt die Schlange. „Und wie ist es in der Nacht?“ - „Da sehe ich noch genauso gut wie früher.“ - „Na dann wollen wir mal“, meint die Brillenschlange.
„Es ist gut, dass du in der Nacht noch alles siehst. Die Sicht am Tage ist ja bei allen Eulen etwas getrübt. Ihr seid schließlich Nachtvögel. Trotzdem erlebst du eine Verschlechterung. Schön, dass du rechtzeitig zu mir kommst. So kann ich dir sicher helfen", spricht sie weiter.
Dann holt sie eine Tafel aus ihrer Tasche, auf der Buchstaben und Zahlen in unterschiedlicher Größe aufgedruckt sind. Sie bittet Opa Eule erst das rechte, dann das linke Auge zuzuhalten und ihr zu sagen, auf welche Zeichen sie gerade zeigt. So stellt sie fest, dass Opa Eule für das rechte Auge ein stärkeres Brillenglas braucht als für das linke.
„Hast du schon mal eine Brille für eine Eule gemacht?“, fragt Opa Eule. Die Brillenschlange denkt eine Weile nach. „Zu meinen Patienten gehörten Mäuse, Kaninchen, Hasen und Eichhörnchen. Auch eine alte Füchsin war hier. Aber für eine Eule habe ich tatsächlich noch keine Brille gebaut. Da brauche ich Ruhe und Zeit. Aber ich bin sicher, das Passende für dich zu finden. Komm in zwei Tagen zum Probieren.“ Opa Eule bedankt sich und fliegt heim.
Am nächsten Morgen bekommt Opa Eule Besuch. Es ist seine Freundin die Krähe. „Die Brillenschlange hat eine Nachricht für dich. Ich habe sie heute zufällig getroffen, als ich die Waldmaus und ihre Kinder besucht habe. Deine Brille ist schon fertig, soll ich dir ausrichten. Du kannst sie dir abholen, sobald du Zeit hast", sagt sie.
Opa Eule ist sehr froh und fliegt gleich los.
„Ich weiß nicht, was gestern mit mir los war", erklärt die Schlange bei seiner Ankunft. „Da habe ich nun so viel Erfahrungen gesammelt, so viele Brillen gebaut. Doch für dich sollte es eine ganz besondere werden, eben eine, die du nur am Tag aufsetzen musst. Zum Glück habe ich nicht lange grübeln müssen. Hier ist sie. Probier sie mal aus."
Opa Eule betrachtet die Brille von allen Seiten. Sie hat ein braunes Drahtgestell, das perfekt zu seinem Federkleid passt. Noch etwas unbeholfen nimmt er sie mit den Flügeln und setzt sie sich auf die Nase. Doch die Bügel reichen nicht hinter seine Ohren. „Das haben wir gleich“, meint die Brillenschlange. Sie holt aus ihrer Werkstatt zwei dünne Drähte und verlängert damit die Bügel. Jetzt sitzt die Brille fest. „Flieg ein Stück, damit ich sehe, ob sie hält“, bittet die Brillenschlange. Und so fliegt Opa Eule los.
Er landet auf der Baumkrone und sein Blick schweift über den Wald. Opa Eule freut sich, wie gut er wieder bis zum Waldrand gucken kann. Jetzt blickt er auf den Waldboden. Er schaut ganz angestrengt und siehe da, er sieht eine Ameise, die ein Samenkorn trägt. Opa Eule ist begeistert. Er dreht noch eine kleine Runde und landet dann bei der Brillenschlange. „Wie war es?“, empfängt sie ihn. „Ich danke dir, liebe Brillenschlange. Es ist wunderbar, wieder so gut sehen zu können. Ich möchte ganz schnell heim zu meinen Enkeln und ihnen meine schöne Brille zeigen.“ Die Brillenschlange lächelt zufrieden. Opa Eule verabschiedet sich und erhebt sich in die Lüfte. Auf dem Weg nach Hause winkt er der Ameise Annika zu. Als er zu seinem Baum kommt, warten dort schon sein Sohn, Panni, Franzi und Karli auf ihn. „Die Brille sieht aber schick aus, Opa“, begrüßt ihn Panni. „Kannst du jetzt wieder gut sehen“, fragt sein Sohn. „Ja, jetzt entgeht mir nichts mehr“, schwärmt Opa Eule. „Ab morgen fliegen wir wieder gemeinsam durch den Wald.

Und wenn ihr, liebe Kinder, im Märchenwald eine Eule mit einer Brille seht, dann wisst ihr, dass es Opa Eule ist."


zuletzt bearbeitet 29.10.2020 17:52 | nach oben springen

#2

RE: Opa Eule braucht eine Brille

in KINDERGESCHICHTEN
28.10.2020 09:24
von Evelucas • 550 Beiträge | 2242 Punkte

Liebe Sabine, liebe Jascha,

vielen herzlichen Dank für diese wundervolle neue und liebenswerte Geschichte, für unsere Lesestube.
Ich mochte sie von Anfang an.

GLG. Evelucas


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