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06.Der Betrug - Nur ein Gedanke

in

• SHORTSTORIES
28.01.2019 17:05
von muglsabine2016 • 277 Beiträge | 1545 Punkte




Der Betrug - Nur ein Gedanke
by Sabine Siebert



„Bitte tragen Sie Ihre Personalien ein.“
Mit diesen Worten überreichte Birgit Müller ihrem Gegenüber einen Erstattungsantrag. Sie prüfte die Bescheinigungen der Fahrkarten, errechnete den Unterschiedsbetrag und zahlte der Reisenden den Restbetrag aus. Seit achtzehn Monaten kamen die Fahrgäste, die ihre Reise mit der Bahn nicht planmäßig angetreten hatten, zu ihr. Birgit war froh, nach vielen Jahren Schichtdienst einen Arbeitsplatz im Tagesdienst gefunden zu haben. Seit ihr Mann sich getrennt hatte, war sie alleine für die beiden Kinder verantwortlich. Kevin war zehn und Melanie acht Jahre alt. Sie vermissten den Vater, der sie ohne Abschied verlassen hatte. Jetzt lebte die kleine Familie in einer schönen Altbauwohnung in Neustadt, nahe einem Park. Sie verfügten über begrenzte finanzielle Mittel, doch es ging ihnen gut. Birgit war den Kindern eine gute Mutter und versuchte ihnen den Vater zu ersetzen.

Heute herrschte Hochbetrieb im Reisezentrum, denn der starke Schneefall hatte zu Zugverspätungen und Ausfällen geführt. Es bildete sich eine Schlange. Birgit bearbeitete alle Rückforderungen. Nahmen an einer Klassenfahrt weniger Kinder teil, wurde das Restgeld erstattet. Natürlich musste sich der Klassenlehrer die Anzahl der Schüler vom Zugschaffner bestätigen lassen. Waren alle Unterlagen korrekt, konnte eine Auszahlung erfolgen. Birgit arbeitete schon lange bei der Bahn, kannte Tarife, Preise und Bestimmungen. Sie wusste genau, wann sie eine Erstattung durchfuhren musste.

Wieder reichte sie einem Kunden ein Formular.
„Bitte füllen Sie die angekreuzten Felder aus.“
In der Zwischenzeit errechnete sie den Betrag auf einem Schmierblatt. Später würde sie die Anträge vervollständigen.
„Vierundsiebzig Euro und sechzig Cent. Bitte sehr. Der Nächste bitte.“
Am Nachmittag stapelten sich die Anträge und die Fahrkarten. Endlich riss der Reisendenstrom ab. Nun begann sie nachzuarbeiten. Aber was war das? Sie hatte Geld ausgezahlt, obwohl die erforderliche Bescheinigung fehlte. Birgit hatte einen Fehler gemacht und fälschlicherweise Fahrtkosten erstattet. Was sollte sie tun? Schweißtropfen bildeten sich auf ihrer Stirn, ihr wurde schlecht. Noch nie war ihr so etwas passiert. Sollte sie der Chefin den Fehler beichten oder ihn vertuschen und hoffen, dass er nicht auffiel? Sie kämpfte mit ihrem Gewissen. Der Fehlbetrag betrug 73,80 €, eine Menge Geld. Würde man Birgit für den Betrag haftbar machen? Erneut betrachtete sie den Fahrschein und da kam ihr eine Idee, wie sie die Karte manipulieren konnte. In Birgit kämpften zwei Seelen. Sie musste sich entscheiden. Der magische Stempel – der alles ungeschehen machte - lag dicht vor ihr. Sie nahm ihn und setzte ihn auf den Fahrschein. Jetzt war nicht nur der Fehler verschwunden, sondern es entstand sogar noch ein Plus. Damit die Kasse stimmte, entnahm sie das Geld. Hundertneunundvierzig Euro blieben übrig. Das Geld brannte in ihrer Hand. Schnell steckte sie es in die Jackentasche. Die Unterlagen gab sie - wie vorgeschrieben - zur Kontrolle ab.

Zuhause angekommen, überhäuften sie die Kinder mit dem Alltagsgeschehen. Sie gab sich ihnen und ihren Sorgen hin. Kaum waren Melanie und Kevin im Bett, kehrten die Gedanken zurück. Wieder und wieder stellte sie sich vor, was bei der üblichen Überprüfung passieren würde. Wie viel Zeit hätte die Schichtleiterin für die Kontrolle? Würde sie alles nachrechnen oder nur mit ihrer Unterschrift die Richtigkeit bestätigen. Birgit war aufgewühlt, konnte an nichts anderes mehr denken. Erst weit nach Mitternacht fiel sie in den Schlaf und in schreckliche Träume, in denen sie ertappt und bestraft wurde. Schweißgebadet erwachte sie.

Der nächste Arbeitstag begann ruhig. Auch die kommenden Tage verliefen komplikationslos, niemand fragte nach. Birgit atmete auf. Hatte sie anfangs täglich an den Vorfall gedacht, verschwendete sie nach drei Monaten keinen Gedanken mehr daran. Das entwendete Geld lag unangetastet in einer Schublade im Wohnzimmerschrank.

Nach einiger Zeit häuften sich private Probleme. Der Kindsvater hatte die Unterhaltszahlungen eingestellt und war nicht mehr auffindbar. Die Waschmaschine hatte den Geist aufgegeben, eine Reparatur lohnte nicht.
Am Abend sagte Kevin: „Du musst mir das Geld für die Klassenfahrt geben. Frau Kunze hat gesagt, wer bis Freitag nicht bezahlt, darf nicht mitfahren.“
„Ich hab’s vergessen. Ich gebe es dir morgen Abend.“
„Ist gut.“
„Hast du mir zugehört Mutti?“ fragte Melanie vor dem Schlafengehen.
„Ich kann in der Theatergruppe mitmachen. Es ist ein Platz frei. Freust du dich nicht?“
„Natürlich. Das wolltest du doch schon immer.“
Doch Melanie hatte recht. Mit ihren Gedanken war Birgit nicht bei der Sache, die Sorgen belasteten sie. Doch die Kinder sollten nichts davon erfahren. Was konnten sie dafür, dass ihr Vater verantwortungslos handelte?
Am nächsten Tag erschien eine Kundin am Schalter.
„Es konnten zwei Teilnehmer nicht mitfahren. Ich möchte das Geld zurück.“
„Haben Sie eine Bescheinigung ?“
„Nein, das wusste ich nicht.“
Birgit betrachtete die Fahrkarte eingehend. Sie war der ersten ähnlich. Wenn sie den Stempel auf die Karte setzte, galt sie als unbenutzt. Es war nur ein kurzer Gedanke.
„Füllen Sie bitte den Antrag aus.“
Dann zahlte Birgit das Geld für zwei Personen aus. Später veränderte sie die Karte wie beim ersten Mal und erstattete den Gesamtbetrag für siebzehn Personen. Abzüglich der ausgezahlten Erstattungen blieben ihr einhundertdreiundvierzig Euro übrig. Das Geld nahm sie in einem unbeobachteten Moment aus der Kasse. Jetzt war Kevins Klassenfahrt gesichert. Auch dieses Mal flog der Schwindel nicht auf. Vermutlich entfiel die korrekte Kontrolle. Von nun an bediente sich Birgit immer öfter. Sie betrachtete jede Karte sorgfältig, ob sie ihrem Zweck diente. So stockte sie ihr Haushaltsgeld auf, gönnte sich und den Kindern kleine Geschenke. Das ging nun schon mehr als sechs Monate so und an Entdeckung verschwendete sie keinen Gedanken. Sie machte gerade Pause, als eine junge Kollegin sich zu ihr gesellte.
„Dir scheints gut zu gehen, Birgit?“
„Wieso?“
„Hast schon wieder neue Klamotten. Ich weiß, woher dein plötzlicher Reichtum kommt.“
„Wie meinst du das, Anke?“
„Du betrügst. Leugnen lohnt nicht, weil ich’s beweisen kann.“
„Was wirst du jetzt unternehmen?“, flüsterte Birgit.
„Nichts, denn ab jetzt wird geteilt.“
Birgit fühlte, dass sie keine Wahl hatte. Nur einmal dachte sie an die Alternative, sich selbst anzuzeigen. Doch der Gedanke verflog, als sie an die Folgen für sich und ihre Kinder dachte. Sie musste nach den Regeln der Kollegin spielen. Doch diese wurde gieriger, forderte immer mehr. Wie zufällig übernahm Anke bei Personalmangel die Überprüfung der Erstattungen. Nun konnten sie ungehindert vorgehen.

Mehrere Jahre trieben sie ihr Unwesen, ohne dass ihnen jemand auf die Schliche gekommen wäre. Eines Tages kam eine neue Abteilungsleiterin, ein junges Ding - siebenundzwanzig Jahre alt - Monika Faltermeier. Sie hatte das Fahrkartengeschäft gelernt und nahm ihre Rolle sehr ernst. Sie machte – wie vorgeschrieben – Stichprobenkontrollen in allen Bereichen. Bald rief sie Birgit zu sich.
„Frau Müller, können Sie mir das bitte erklären? Sie haben eine ungültige Karte erstattet.“
Sie zeigte Birgit die Unterlagen. Verdammt sie hatte vergessen, den Stempel auf die Karte zu setzen.
„Mein Fehler. Zahle den Betrag zurück.“
„Warum sollten Sie vierhundertachtunddreißig Euro aus eigener Tasche bezahlen? Ich möchte die Unregelmäßigkeit erklärt bekommen.“
„Habe mich vertan. Tut mir leid“, stammelte Birgit.
„Danke, Sie können gehen.“
Mit ihrem Angebot diese Summe sofort zu bezahlen, hatte sie das Misstrauen von Monika Faltermeier geweckt. Sie ließ sich alle vorrätigen Unterlagen bringen und schon bald hatte sie den Betrug aufgedeckt. Frau Faltermeier verständigte ihren Vorgesetzten und die Polizei. Jetzt ging alles sehr schnell. Birgit wurde abgelöst. Sie machte reinen Tisch, gab alles zu, kooperierte, um die Strafe zu mildern. Auch von Ankes Beteiligung berichtete sie. Doch der war nichts zu beweisen und so wurde Birgit als Alleinschuldige verurteilt.



Die Geschichte wurde von muglsabine frei erfunden.

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zuletzt bearbeitet 01.04.2020 14:54 | nach oben springen

#2

RE: Nur ein Gedanke

in

• SHORTSTORIES
30.01.2019 22:13
von A. C. Greeley • 186 Beiträge | 915 Punkte

Ein ganz neues Schreib-Gesicht zeigst du uns hier, Sabine. Das gefällt mir! Mal was neues!

Eine wirklich tragische Geschichte hast du hier gezaubert, besonders wenn man bedenkt, dass am Anfang alles 'harmlos' ist, also vergleichsweise. Ja, so kann es gehen. Hätte Birgit nicht weitergemacht, wäre es halb so schlimm ausgegangen. Sie tut mir am Anfang leid, denn sie ist nicht schuld daran, dass all das passiert. Geldsorgen, Kinder, keine Unterhaltszahlungen mehr, das ist sehr tragisch und da kann man schon in Versuchung geführt werden, dennoch ... es hätte sicher andere Möglichkeiten gegeben, sich und den Kindern zu helfen.
Danke für diese einprägsame Shortstory!

Liebe Grüße aus Wien und Gute Nacht!


zuletzt bearbeitet 01.02.2019 09:49 | nach oben springen

#3

RE: Nur ein Gedanke

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• SHORTSTORIES
02.02.2019 14:42
von muglsabine2016 • 277 Beiträge | 1545 Punkte

Liebe Agnete,

vielen Dank für dein Feedback, über das ich mich sehr gefreut habe. Der Schritt von einem unbewussten Fehler zum Betrug kann ein ganz kleiner sein. Ich habe das leider im wirklichen Leben auch gesehen. Beruflich habe ich mit vielen Menschen zu tun, da ist mir nichts Menschliches fremd. Schön öfter musste ich dann sagen: "Wären Sie doch vorher zu mir gekommen. Da hätte es einen anderen Weg gegeben.
Ich wünsche dir ein schönes Wochenende.
G.l.G. Sabine


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